ADS - Hyperaktiv - Na und?

 

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Hyperaktivität und Zeitgeist


„Hyperaktivität ist eine Metapher für die gegenwärtige amerikanische Gesellschaft. HA ist wie das Leben heute. Das medizinische Syndrom HA passt in die Gangschaltung unserer derzeitigen Kultur. Das schnelle Tempo des Alltags, die Suche nach Stimulation in Musikgedröhn, die Liebe zum Schnellimbiss, die Verbreitung von Faxmaschinen, Handies, PC-Netzwerke, Anschlagbretter und elektronischer Briefkästen, unser Appetit für Gewalt, Action und Abenteuer, unsere Eile und Ungeduld, die Ausbreitung der Spielleidenschaft, die Sucht nach Extremen und Gefahren - alle diese amerikanischen Eigenschaften gleichen so sehr der HA!

 

Wenn man eine Beschreibung der HA hört, klingt das wie die Schilderung des Stadtlebens in diesem Land. Sieht nicht jeder in Los Angeles oder New York City so aus als wäre er hyperaktiv? Natürlich sind sie es nicht, aber man darf wohl doch sagen, dass unsere städtische Kultur dazu geeignet ist, ein Syndrom oder das, was ich Pseudohyperaktivität nennen möchte, herbeizuführen" (Übersetzt aus dem Buch zweier amerikanischer Ärzte: „Answers To Distraction", von Hallowell & Ratey, Pantheon Books, 1994, S.13).


Was so anschaulich für die amerikanischen Lebensweisen geschildert wurde, trifft offenbar hier nicht weniger zu. So schreibt in diesen Tagen ein Pädagoge, Schulrektor und Hochschullehrer, dass Eltern, Erzieher und Ausbilder, dass alle gleichermaßen klagen über „schwierige, ja unmögliche Kinder", die nicht mehr zuhören, keine Regeln einhalten, ihre Aggressivität ausleben, gewaltbereit und spielunfähig sind, denen es an Konzentration, Ausdauer, Merkfähigkeit und sozialem Miteinander fehlt. Dabei schreibt er hier, wie man glauben könnte, keineswegs etwa von ha Kindern, sondern ganz allgemein zur „Situation von Kindern heute". Er betont, dass viele Eltern auch heute noch alles opfern, um ihren Kindern das beste zu bieten: „Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kinder heute mit weniger emotionalen und sozialen Erfahrungen in die Schule kommen... , dass in mehr als der Hälfte bundesdeutscher Familien Kinder ohne Geschwister aufwachsen; mehr als 2 Mio. Kinder leben nur mit einem Elternteil. In vielen Familien findet kaum noch Erziehung statt, von persönlicher Zuwendung kann keine Rede sein. Gesprächsmöglichkeiten für Kinder sind nicht mehr gegeben. Der früher selbstverständliche Kontakt mit Eltern oder Kindern wurde abgelöst durch das Einschalten von Fernsehen und Videorekorder". Ferner spricht der Autor von „instabilen Familienverhältnissen, fehlender Wertorientierung, die Kinder schnell aggressiv und gewaltbereit macht, Drogen, Leistungsdruck und Freizeitstress.

Vor allem bleibt keine Zeit für das, was ein Kind am meisten braucht: Zeit, um Kind sein zu dürfen" (in: Wehrfritz Wissenschaftlicher Dienst, Hrsg.: Wehrfritz GmbH, Heft Nr. 62/63, Febr. 1996, S. 10 ff). Der zuletzt zitierte Satz läßt sofort an Neil Postman denken, der schon 1982 in seinem weit bekannt gewordenen Buch „Das Verschwinden der Kindheit" beklagte und an David Elkind, dessen Buch „Das gehetzte Kind" 1991 in Deutsch erschien. Elkind schildert u. a., daß bei einigen Kindern chronischer Stress in unterbewusste Angst umgesetzt wird, in eine vage Angst, die das Kind unruhig macht, reizbar und unfähig, sich zu konzentrieren.


Solche psycho-sozialen Schilderungen werfen Fragen auf. Ist die Gesellschaft, ist der unruhige, gehetzte Zeitgeist „schuld" an der HA vieler Kinder? Unterscheiden sich Hyperaktive nur dem Grad, dem Ausmaß nach vom heutigen überaktiven Stadtmenschen? Sind sie also eigentlich gar nicht krank? Müssten wir nicht vielmehr die Gesellschaft „behandeln" als die einzelnen Hyperaktiven?


Es gibt keine wissenschaftlich stichhaltigen Antworten auf diese Fragen. Die Annahme dürfte aber erlaubt sein, dass der unstete Lebensstil heute ein „gutes" Klima dafür bereitet, dass HA öfter auftritt und auch dafür, dass sie öfter unerkannt bleibt, respektive verkannt wird. Unruhige Gestalten fallen gegen einen unruhigen Hintergrund weniger auf, sind schwieriger von ihm abzuheben und zu erkennen. Daher behaupten auch eine Anzahl Leute, es gebe gar keine HA, wenigstens nicht als eigene Erscheinung mit Krankheitswert, sondern eben nur extreme Varianten dessen, was heute als „normal" gelten muss. Die Vertreter dieser Anschauung richten ihre Bemühungen zu helfen verständlicherweise weniger auf das betroffene Individuum, sondern mehr auf gesellschaftliche Systeme, wie etwa Familie, Schule, Gemeinwesen, Arbeitswelt, usw... Nach den oben zitierten Schilderungen, die ja heute fast niemandem unbekannt sind, vielmehr weitgehend den eigenen alltäglichen Erlebnissen entsprechen, sind sicher alle Bemühungen um mehr Menschlichkeit notwendig und begrüßenswert.

Im Hinblick auf unsere Hyperaktiven ist jedoch festzuhalten, was schon im ersten Zitat deutlich gesagt wurde, sie sind NICHT wie jeder heutige gehetzte Großstadtmensch. Die „echte" HA, die als solche im Einzelfall medizinisch-psychologisch wissenschaftlich diagnostizierte, ist nach derzeitigem Wissen eine primär hirnbiologisch bedingte Krankheit. Sie ist folglich auch nicht mit rein psychotherapeutischen, mit schul- oder gesellschaftsreformierenden oder gar mit esotherisch-alternativen Maßnahmen zu beheben.


Wohl aber kann gesagt werden, dass der Psychologie (wie auch anderen Wissenschaften) im Zusammenhang mit der HA eine eigene und wichtige Rolle zukommt. Mit seiner eigenen HA, ob als Kind, als Jugendlicher oder Erwachsener, leben zu müssen, oder mit der HA seines Kindes, Ehepartners, Mitarbeiters, Schülers usw. leben zu müssen, das bietet genug Konfliktstoff, um sowohl besonderer psychologischer Ein- und Rücksichten, als auch spezieller psychologischer Behandlung zu bedürfen.

 
Alle Hilfen müssen individuell zugeschnitten sein, weil kein Hyperaktiver dem anderen und keine Umgebung der anderen gleicht. Immer muss eine genaue, mehrdimensionale Abklärung am Anfang stehen. Die medizinisch-psychologisch-soziale Diagnose eines jeden Einzelfalles ist der erste und entscheidende Schritt zu einer Erfolg versprechenden Hilfe.


Patentlösungen gibt es nicht, so begehrenswert sie gerade heute erscheinen mögen. Heute, wo alles schnell gehen, durch eine Tablette oder ein Hausmittel rasch, einfach, schmerzlos und billig wieder in Ordnung kommen sollte! Man hat ja keine Zeit, kein Geld und keine Toleranz für Leid. Eine solche Erwartungshaltung verhilft höchstens selbsternannten Heilern und in fraglichen Instituten „Schnellgesiedeten" (=Ausdruck der Stiftung Warentest für Edukinesiologen) Beratern auf den „Markt" der sog. alternativen Methoden.


Nur scheinbar wissenschaftlicher Jargon, einfache, leicht eingehende Erklärungen, unglaubliche Erfolgsversprechungen, werbewirksame Selbstdarstellung und selbst fabrizierte (nicht gewerblich geschützte!) Berufsbezeichnungen, das sind die Hauptmerkmale, die einen stutzig machen sollten. Bieten solche Institute außerdem Fortbildungskurse an, in denen jeder, auch ohne berufliche Vorbildung, in kurzer Zeit für viel Geld zu einem wohlklingenden Titel gelangen kann, so ist doppelte Vorsicht geboten.


Selbst bei Fachleuten, deren mehrjährige Ausbildung an staatlich anerkannten Hochschulen durch entsprechende Zertifikate nachgewiesen sind, ist es nicht immer leicht, den richtigen Behandler zu finden. Ehe man sich einem Spezialisten anvertraut, sollte man die Mühe und den Mut aufbringen, sich zu erkundigen, bei Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen, in der Arzt- oder Psychologenpraxis, bei Verwandten und Freunden oder auch bei dem ins Auge gefassten Therapeuten selbst. Wie heißt er genau, welche Ausbildung, welches Spezialfach, welche einschlägige Erfahrung liegen vor? Ist die Methode wissenschaftlich anerkannt? (Hilfreiche Informationen dazu finden sich in „Die andere Medizin", Hrsg. und Verlag Stiftung Warentest, Stuttgart, 1992)


Letztlich ist es also nicht der Zeitgeist, von dem wir uns lenken lassen sollten, wenn es um das Leben mit HA geht, sondern von unserem kritischen Verstand. Hyperaktivität ist nicht heilbar, aber sie kann behandelt und gemildert werden.

 
Mit der eigenen HA oder mit der anderer leben zu müssen, bietet genügend Konfliktstoff, um sowohl besondere Einsichten und Rücksichten als auch besondere Therapien zu erfordern. Alle Hilfen müssen individuell zugeschnitten sein, setzen also eine genaue und mehrdimensionale Abklärung voraus. Eine gute Diagnose ist der erste Schritt zur Hilfe.


Dr. Eichlseder, in Deutschland der Vorreiter in Sachen HA und vielen noch in lebendiger, dankbarer Erinnerung, pflegte das Leben mit HA etwas drastisch, aber sicher zutreffend, als ein „Höllendasein" zu bezeichnen. Erst seit knapp drei Jahrzehnten ist das Krankheitsbild des Hyperkinetischen Syndroms, dessen eines Symptom die Hyperaktivität ist, intensiver von einer Reihe von Forschern untersucht worden. „Diese Störung ist eben keine Zeiterscheinung, sondern eine häufiger auftretende Krankheit des Menschen, nicht nur des Kindes.....

Beginn, Intensität und Dauer der Erkrankung können sehr verschieden sein. Hinsichtlich der organischen Faktoren, die das hyperkinetische Syndrom bedingen, herrscht trotz intensiver Forschung noch keine endgültige Klarheit"; dies sind Sätze aus dem sehr kompetenten, gut lesbaren Büchlein von Dr.med. Johanna Krause, „Leben mit hyperaktiven Kindern", Verlag Piper, 1995, Serie Gesundheit.

Die selbst betroffene Mutter, Ärztin und Therapeutin, geht mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass es sich um eine biologisch bedingte Erkrankung mit entsprechenden seelischen Folgeerscheinungen handelt, die bis ins Erwachsenenalter anhält. Sie zeichnet aber keineswegs das Bild einer unbehandelbaren Erkrankung, sondern zeigt eine Anzahl von Möglichkeiten auf, das Leben trotzdem erträglich und konstruktiv zu gestalten.


Daran, dass HA nicht „auswächst", also nicht mit der Pubertät verschwindet, sondern auch im Jugend- und Erwachsenenalter, wenn auch in leicht veränderter Form, weiter bestehen kann, zweifelt heute niemand mehr. „Die hyperkinetische Störung ist keine isolierte Kinderkrankheit. Verschiedene follow-up-Studien haben ergeben, dass 70 - 75 % der Kinder auch später im Erwachsenenalter Konzentrationsprobleme, Überaktivität und Impulsivität zeigen", (zitiert aus „Das hyperkinetische Syndrom und seine medikamentöse Behandlung" von G. E. Trott, Verlag J. A. Barth, 1993). Der Autor dieses wissenschaftlichen Werkes betont als Mediziner zwar die medikamentöse Behandlung, berichtet aber dennoch, dass nach allgemeiner derzeitiger fachlicher Auffassung die Therapie eine vielseitige, dem Einzelfall angepasste sein sollte.


Es gibt ein vielfaches Angebot psychologischer Hilfen bei Hyperaktivität
Psychologische Hilfen beginnen keineswegs erst mit wissenschaftlich entwickelten und von Fachleuten angewandten Methoden. Alles Helfen, auch das alltägliche Miteinanderleben, hat bei HA eine besondere psychologische Dimension. Im alltäglichen Zusammenleben, ob zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz oder wo immer, ist tiefes Verständnis für den ha Menschen und für seine Mitwelt erforderlich. Damit sind kein sentimentales Gefühl, kein übertolerantes Alles-Gehen-lassen und keine Besserwisserei gemeint, sondern ein Verstehen aus Wissen, Verstand, Respekt und Zuwendung.

 
Das Wissen um diese Erkrankung - an der niemand „schuld" ist ermöglicht jenen inneren Abstand, der zur Versachlichung und damit zum gelassen Umgang beiträgt. In Abwandlung einer allgemeinen Redensart könnte man hier sagen: „Was ich weiß, macht mich nicht heiß". Wenn ich weiß, dass mein Kind, mein Ehepartner, Schüler, Lehrling, Mitarbeiter... mich nicht kränken will, mich nicht absichtlich provoziert, selbst unter seinem Unvermögen, sich zu steuern, leidet, dass er nicht „böse", sondern krank ist, dann brauche ich mich weder gekränkt noch schuldig fühlen.


Und wenn ich sorgfältig beobachte, vielleicht sogar kleine Notizen mache, dann erkenne ich womöglich, was z. B. bei einem Kind die Wutanfälle auslöst, was meinem Partner die letzte Konzentration raubt, wann der Schüler blind zu boxen beginnt oder bei welchen Stress-Situationen mein Mitarbeiter ausflippt. Wenn ich ruhig beobachte, anstatt mich selbst mit in den Strudel reißen zu lassen, dann kann ich manchen Stein des Anstoßes aus dem Weg räumen, das Entstehen oder das Aufschaukeln von Krisensituationen vermeiden. Ein praktisches Beispiel dafür ist der Schüler, der immer dann seine Klassenkameraden knuffte oder zerrte, wenn er sich mit ihnen in einer Reihe aufstellen sollte; von der Lehrerin beauftragt, als „sichernde Nachhut" immer einen Schritt hinter der Reihe herzugehen, war wenigstens wieder eines seiner Probleme gelöst.

 
Wenn ich Tagesabläufe deutlich strukturiere und so weit wie möglich immer gleich ablaufen lasse, dann gebe ich dem Hyperaktiven eine bessere Chance, sich angemessen zu verhalten. Wenn die Erziehung meines Kindes konsequent ist, wenn es stets weiß, welche Folgen sein Verhalten auslöst, dann findet es sich besser zurecht. Wenn ich seinen Bewegungsdrang berücksichtige, es im Stehen lesen, schreiben oder Hausaufgaben machen lasse, ihm Bewegungspausen oder kleine -aufträge gebe, dann kann es sich vielleicht besser konzentrieren, als wenn es stillsitzen müsste.


Wenn ich erkannt habe, dass Strafen nichts nützt, wenn Erwachsenen (Ehepartner, Lehrer / Eltern, Verwandte usw...) sich nicht gegenseitig die Schuld zuschieben, dann kann das Zusammenleben friedlicher verlaufen.


Wenn ich mir immer wieder geduldig vor Augen führe, dass ha Menschen neben ihren auffallenden, oft lästigen, auch gute Eigenschaften haben (z. B. Wendigkeit, Einfallsreichtum, Begeisterungsfähigkeit, Offenheit, Tier- und Naturliebe, Einsatzfreudigkeit, Handwerkstalent usw...), dann ist es leichter, sie zu respektieren, ihr Selbstwertgefühl zu stärken.
Neben diesen psychologischen Alltagshilfen müssen allerdings in vielen Fällen auch professionelle in Anspruch genommen werden.