Das BOBATH-Konzept: Eine Einführung (Karen Bernard)

Geschichtlicher Rückblick

Die Krankengymnastin Frau Berta Bobath behandelte im Zweiten Weltkrieg einen 40-jährigen
Mann, der unter einer spastischen Hemiparese (Schlaganfall) litt. Dabei konnte sie beobachten,
dass aufgrund einer besonderen Handhabung ihrerseits die Spastizität reduziert wurde und dem
Patienten dadurch die Gelegenheit gegeben wurde, neue Bewegungen zu fühlen und diese
dann auch neu zu lernen (Muskeltonusregulierung). Diese neu erworbenen Bewegungen mach-
ten neue sensomotorische Funktionen möglich.

Unterstützt wurde Frau Bobath in ihrer Arbeit durch ihren Mann, Dr. Karel Bobath, einen Neuro-
logen und Psychiater. Gemeinsam kamen sie zu der Erkenntnis, dass "das Zentralnervensystem
aus der Peripherie über die Sinnesorgane auf sensorischem Wege durch Lageveränderungen
beeinflusst werden kann"(1).

 

Die Idee des BOBATH-Konzeptes bezweckt, dass das Kind mit einer Bewegungsstörung mit
therapeutischer und elterlicher Hilfe die größtmögliche Selbständigkeit im Alltag erreichen soll.
Der Konzeptgedanke lässt genügend Freiraum für Analysen, neue Ideen und Varianten. Der
Schwerpunkt liegt im Verständnis für Zusammenhänge. Das Konzept bildet die Grundlage für
ein Zusammenarbeiten zwischen dem betroffenen Kind, dessen Eltern, den weiteren Bezugs-
personen und dem sozialen Umfeld. Das BOBATH-Konzept enthält zwei wesentliche Prin-
zipien:

bulletdie neurophysiologische Grundlage
 
bulletdie ganzheitliche Sichtweise

Da es sich um ein medizinisch ausgerichtetes Konzept handelt, findet es seine Anwendung in
der Diagnostik bei Kinderärzten bzw. Kinderneurologen, in der Diagnostik und Therapie, in der
Krankengymnastik, Ergotherapie und Logopädie. Kinder jeden Alters mit folgenden neurologi-
schen Störungen können auf neurophysiologischer Grundlage nach dem BOBATH-Konzept
behandelt werden:

bulletverschiedene Erscheinungsformen der cerebralen Bewegungsstörungen
 
bulletMeningomyelocelen (2)

(2) Meningomyelocelen = Vorfall von Rückenmarkshäuten oder Rückenmarksabschnitten durch
einen Spalt der Wirbelsäule z.B. Spina Bifida

 
bulletZustand nach Hirntrauma oder Hirninfarkt
 
bulletGeistige Entwicklungsverzögerung unterschiedlichen Ausmaßes
 
bulletSensomotorische Entwicklungsverzögerungen anderer Ursachen

 
Zu den Prinzipien im BOBATH-Konzept

Die neurophysiologische Grundlage

Das Zentralnervensystem ist ein äußerst komplexes System, welches unzählige
Möglichkeiten der "Regulation" hat: "intern" (in sich selbst) und im Zusammenhang mit
"äußeren" Reizen. D.h., das Zentralnervensystem verfügt über bestimmte sensomotorische
Regelkreise.(3)

(3) sensomotorische Regelkreise = die enge Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewegung

Zudem nimmt es aus der Umwelt, aus der Peripherie, Reize zur weiteren Verarbeitung auf.
Aus der Peripherie kommen die Reize über die Sehnen, Muskeln, die Haut, die Gelenke,
über die Augen und Ohren. In Verbindung mit dem Gleichgewichtssystem sehen wir beim
Kind als Antwort all dieser Verarbeitungsmöglichkeiten (Regulation) die Fähigkeiten der
sensomotorischen Steuerung, der sensomotorischen Entwicklung.

Dazu zählen u.a.

bulletdie Haltungskontrolle auf einer Unterlage und im Raum
 
bulletdie Steuerung der motorischen Koordination mit angepassten, aufeinander
abgestimmten Bewegungen, nicht nur im grobmotorischen Bereich, sondern
auch bei feinmotorischen Tätigkeiten wie beim Schreiben oder beim Spre-
chen
 
bulletdie Regulation zur Steuerung im motorischen Bereich; auch bei Wahrnehmungs-
prozessen und im emotionalen Bereich "reguliert" das intakte Zentralnerven-
system.

Bei einer Schädigung im Zentralnervensystem kann es zu "Fehlregulationen" kommen, die sich auf
unterschiedliche Art und Weise zeigen können, z.B. in Bewegungsstörungen verschiedenen Aus-
maßes. Die Unfähigkeit oder die Erschwernis, sich nicht "regulieren", sich nicht "koordinieren" zu
können, sich nicht den verschiedensten Situationen anpassen zu können, bedeutet häufig für das
Kind mit einer Bewegungsstörung, dass nicht nur die grobmotorischen Fähigkeiten, beispielsweise

das Herumrollen im Zimmer, das Sitzen am Boden zum Spielen oder das Klettern und Gehen müh-
sam und schwierig sind. Es können auch andere Bereiche, z.B.  die Handfunktionen, die Nahrungs-
aufnahme, sogar die Atemtätigkeit, die aktive Sprechentwicklung, das Hören und Sehen beeinträch-
tigt sein.

Da sich auch Wünsche und Gefühle durch Bewegung äußern, werden Kinder mit Bewegungsstö-
rungen oft missverstanden und fehleingeschätzt. Die Folge können ausgeprägte Verhaltensstörungen
sein, die das Kind in seiner Persönlichkeitsentwicklung, seinem Selbstwertgefühl und seiner Selbst-
ständigkeit beeinträchtigen können. Aufgrund der Bewegungsstörung können die Körperwahrneh-
mung (Oberflächen- und Tiefensensibilität) und Raumerfahrung oft auch nicht genügend erfasst wer-
den.
 

Die ganzheitliche Sichtweise

Ausgehend von den soeben erwähnten Erkenntnissen wird deutlich, dass das Kind mit einer zen-
tralen Bewegungsstörung nur in seiner Gesamtentwicklung bzw. in seiner Entwicklung zum so-
zialen Umfeld gesehen werden kann. In der Therapie wird dieser Tatsache Rechnung getragen,
indem in einer Befunderhebung der aktuelle Entwicklungsstand des Kindes im motorischen Be-
reich, in der geistigen und der damit verbundenen Spiel-, Sprach- und der emotionalen Entwick-
lung ermittelt wird. Die Differenzierung im Befund bedeutet dann den Ansatzpunkt für die bevor-
stehenden Therapiemöglichkeiten oder das Abwägen von Therapien. Den Leitfaden in der Thera-
pie bildet die sensomotorische Entwicklung mit ihren Variationen. Die Therapie orientiert sich nur
bedingt an den so genannten "festgelegten Daten" oder "Meilensteinen". Ausschlaggebend ist die
Beurteilung von Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten des Kindes; sie beinhaltet die Qualitätsbeurteilung
und die Kompensationsmöglichkeiten, die das Kind zur "Selbsthilfe im Alltag" zur Verfügung hat.
 

   
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